PRO BAHN zum rot-grünen Koalitionsvertrag in Niedersachsen:
Der Fahrgastverband PRO BAHN begrüßt viele Inhalte des jüngst geschlossenen Koalitionsvertrages zwischen SPD und Grünen in Niedersachsen und wünscht dem designierten Wirtschaftsminister Olaf Lies, der in dieser Position auch für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zuständig ist, viel Erfolg bei ihrer Verwirklichung. Nachdem der ÖPNV während der Großen Koalition in den letzten fünf Jahren eher ein Nischenthema war, muss nun schnell und energisch gehandelt werden, um die ambitionierten Ziele umsetzen zu können – allen voran die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030. Diese wird definitiv nicht gelingen, solange sich insbesondere der Schienenverkehr in Niedersachsen in einem so schlechten Zustand wie jetzt befindet und zu wenig dagegen und für seinen Ausbau getan wird.
„PRO BAHN freut sich darüber, dass Niedersachsen sich hinter den Deutschlandtakt stellt und ihn nicht mehr als Hindernis betrachtet. Ebenso wichtig ist der Wille, Taktungen und Zuverlässigkeit zu steigern; an beidem mangelt es enorm. Aus den vorgenannten Aussagen und Zielen wird hoffentlich der Aufbau eines strategischen niedersächsischen SPNV-Plans hervorgehen. Die finanzielle Unterstützung von Machbarkeitsstudien zur Reaktivierung von Bahnstrecken ist auch ein echter Fortschritt“, hebt Landesvorsitzender Malte Diehl einige positive Punkte hervor. „Das gilt zudem für die Mitfinanzierung des 49-Euro-Tickets, die bessere Nutzung der Möglichkeiten des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) und die Elektrifizierung weiterer Bahnstrecken. Gut ist ebenfalls der parlamentarische Lenkungskreis; sollten wir als Fahrgastvertreter dazu eingeladen werden, werden wir mit unserer Erfahrung sehr gerne dazu beitragen.“
Um die im Koalitionsvertrag postulierte Vorreiterrolle einzunehmen, muss Niedersachsen zunächst aber viel Boden auf andere, deutlich fortschrittlichere Bundesländer aufholen. Dazu müssen aus Sicht von PRO BAHN folgende wesentliche Punkte unverzüglich angegangen werden:
- Sofortprogramm zur Stabilisierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV): Der SPNV in Niedersachsen leidet stärker als anderswo unter verschiedenen gravierenden Problemen. Dazu gehören unzureichende und veraltete Infrastruktur, akuter Personalmangel bei Deutscher Bahn AG und anderen Verkehrsunternehmen, fehlende Anschluss-Sicherung in Umsteigebahnhöfen sowie individuelle betriebliche Probleme bei den zahlreichen verschiedenen Bahngesellschaften. Olaf Lies muss hier in einer konzertierten Aktion die wesentlichen Problemursachen identifizieren und schnellstmöglich beseitigen lassen. Nicht alle Mängel können sofort gelöst werden, aber wenn wenigstens ein erheblicher Teil davon beseitigt wird, wirkt sich das überaus stabilisierend auf den gesamten Verkehr aus und wirkt den Fahrgastverlusten entgegen, die auf manchen Bahnhöfen wegen der schlechten Zuverlässigkeit bis zu 30 % betragen. Dabei darf auch die Finanzierung dringend benötigter Infrastruktur durch zusätzliche Landesmittel kein Tabu sein, auch wenn eigentlich die Deutsche Bahn AG, genauer: ihre Tochtergesellschaft DB Netz AG, dafür zuständig wäre.
- Garantie für Verkehrsleistungen: Durch Corona und das 9-Euro-Ticket bzw. dessen Nachfolger für 49 Euro stehen viele Verkehrsbetriebe, besonders eigenwirtschaftlich arbeitende Busunternehmen, stark unter Druck. Ihnen muss schnell und unbürokratisch geholfen werden, um die Verkehrsleistungen überall mindestens im bisherigen Umfange zu sichern. Wo unumgänglich, muss kurzfristig auch das Land als Betreiber einspringen.
- Erstellung eines niedersächsischen SPNV-Plans für 2030 und 2040: Andere Bundesländer wie z.B. Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben längst Pläne für den koordinierten Ausbau des SPNVs in ihren Bundesländern geschmiedet, die teils sogar weit über den Deutschlandtakt hinausgehen. In Niedersachsen gibt es dergleichen bislang überhaupt nicht. Von Ausnahmen abgesehen, wird jede Maßnahme einzeln betrachtet und nicht als Teil eines übergeordneten Zielnetzes gesehen, in dem klar definierte Angebots- und Qualitätskriterien als Grundlage angewandt werden. Dies muss zur Ableitung weiterer verkehrlicher und infrastruktureller Maßnahmen umgehend geändert werden.
- Schnelle Reaktivierung von Strecken mit bekannt gutem Nutzen-Kosten-Faktor: Strecken, denen Studien einen Nutzen-Kosten-Faktor größer 1,0 zuweisen, müssen umgehend reaktiviert werden. Dazu gehören unter anderem, aber nicht ausschließlich Lüneburg – Soltau, Winsen – Salzhausen, Aurich – Abelitz, Tostedt – Zeven und Stade – Bremervörde sowie natürlich auch die bereits in Umsetzung befindlichen Strecken in Salzgitter, von Neuenhaus nach Coevorden und von Maschen nach Buchholz. Hier darf nicht durch eine neue großangelegte Gutachtensammlung wie 2013 weitere Zeit verschwendet werden.
- Beschleunigte Umsetzung der bestehenden Reaktivierungsprogramme für Bahnhöfe: Seit Jahren warten im Gebiet der Aufgabenträger Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachen und Regionalverband Großraum Braunschweig über 20 Stationen auf ihre Reaktivierung. Diese muss nun endlich mit vereinten Kräften angegangen werden, damit die meisten davon auch bis zum Ende dieser Legislaturperiode abgeschlossen sind. In der letzten Legislaturperiode wurde genau ein einziger Bahnhof an einer bestehenden Strecke reaktiviert.
- Übergang zu einem echten Niedersachsentarif: Trotz des neuen Deutschlandtickets gleicht das Tarifsystem in Niedersachsen einem Dschungel und schreckt viele Fahrgäste ab. Diese Legislaturperiode muss genutzt werden, um den einheitlichen Niedersachsentarif zum einzigen Tarifsystem innerhalb Niedersachsens zu machen. Ein halbes Dutzend Verbundtarife und zusätzlich viele lokale Bustarife sind nicht mehr zeitgemäß.
Im Gegensatz zu vielen positiven Aspekten des Koalitionsvertrages ist das Festhalten an dem bestandsnahen Ausbau zwischen Hamburg und Hannover sowie Bielefeld und Hannover jedoch ein falsches Signal. PRO BAHN wird auch hier aktiv mit sachlich fundierten Argumenten für die Vorteile beider Neubaustrecken werben, zu denen die schnellere Umsetzung, größere Kapazität, kürzere Fahrzeiten und niedrigere Umweltbelastung gehören. Wir wünschen uns, dass der neue Wirtschaftsminister Lies am Ende den Mut hat, die Lösung mit dem besten Nutzen-Kosten-Faktor auch dann zu unterstützen, wenn es sich dabei um eine Neubaustrecke handelt. Bedauerlicherweise findet sich auch keine Aussage zu grenzüberschreitenden Verkehren in andere Bundesländer und vor allem die Niederlande. So irrelevant diese Grenzen heute eigentlich sind, so sehr stellen sie im ÖPNV infolge engstirniger Planungen eine ernsthafte Barriere dar. „Alles in allem hoffen wir aber, dass durch den insgesamt gegenüber seinem Vorläufer deutlich ehrgeizigeren Koalitionsvertrag neue Bewegung in die niedersächsische Verkehrspolitik kommt“, äußert Vorsitzender Diehl sich zuversichtlich. „Die letzten fünf Jahre sind leider in dieser Hinsicht verloren. Das darf sich nicht wiederholen.“